Kirch am Eck
und
drumherum

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Gerechtigkeit, Friede und
Bewahrung der Schöpfung

 

 

 

 

Essay von Umberto Eco

Leidenschaft und Vernunft

Der italienische Schriftsteller Umberto Eco über die Vernunft in Zeiten terroristischer Bedrohung.

Alle Religionskriege, die jahrhundertelang die Welt mit Blut getränkt haben, sind aus dem leidenschaftlichen Festhalten an vereinfachenden Gegensätzen entstanden, wie etwa Wir und die Anderen, Gut und Böse, Weiß und Schwarz. Wenn die westliche Kultur sich als fruchtbar erwiesen hat, so auch deshalb, weil man im Licht der Untersuchungen und des kritischen Geistes gezwungen wurde, sich von den schädlichen Vereinfachungen zu "befreien".

Natürlich hat sie es nicht immer so gehalten, weil zur Geschichte der westlichen Kultur auch Hitler gehört, der die Bücher verbrannte, die "entartete Kunst" verdammte und die Angehörigen "minderwertiger Rassen" umbrachte.

Es sind aber die besten Aspekte unserer Kultur, die wir mit den jungen Menschen aller Hautfarben diskutieren müssen, wenn wir verhüten wollen, dass auch in jenen Tagen, die sie nach uns leben werden, neue Türme einstürzen.

Was oft Verwirrung schafft, ist die Tatsache, dass verschiedene Dinge nicht auseinander gehalten werden: die Identifikation mit den eigenen Wurzeln; das Verstehen dessen, der andere Wurzeln hat; das Urteil darüber, was gut und was schlecht ist.

Zu den Wurzeln so viel: Würde man mich fragen, ob ich meine Zeit als Rentner lieber in einem kleinen Dorf im Monferrato ( Hügelland in Piemont, A. d. Ü . ), in der majestätischen Bergwelt des Abruzzen-Nationalparks oder in den sanften Hügeln Sienas verbringen möchte, so würde ich mich für das Monferrato entscheiden. Dies aber bedeutet noch lange nicht, dass ich die anderen italienischen Gegenden als dem Piemont unterlegen bewerte.

Jeder identifiziert sich mit der Kultur, in der er aufgewachsen ist ­ die Fälle von Wurzelverpflanzungen sind in der Minderzahl

Wenn daher unser Ministerpräsident mit seinen Worten (für die Menschen im Westen gesprochen und nicht etwa an die Araber gerichtet) ausdrücken wollte, dass er lieber in der Nähe von Mailand als in Kabul leben und sich lieber in einem Mailänder als in einem Bagdader Krankenhaus behandeln lassen würde, so bin ich bereit, seine Meinung zu unterschreiben. Und dies sogar dann, wenn man mir sagte, dass man in Bagdad über das am besten ausgestattete Krankenhaus der Welt verfüge: In Mailand wäre ich zu Hause, und dies würde auch meine Heilungskräfte beflügeln. Die Wurzeln können auch über die rein regionalen oder nationalen Wurzeln hinausreichen. Ich würde, um ein Beispiel zu nennen, lieber in Limoges als in Moskau leben. Wieso das, ist Moskau denn etwa keine wunderschöne Stadt? Gewiss doch, aber in Limoges würde ich die Sprache verstehen.

Jeder identifiziert sich also mit der Kultur, in der er aufgewachsen ist, und die Fälle von Wurzelverpflanzungen, die es auch gibt, sind in der Minderzahl. Lawrence von Arabien kleidete sich genau wie ein Araber, aber letzten Endes ist er nach Hause gezogen.

Beschäftigen wir uns jetzt mit dem Gegensatz der Zivilisationen, weil es um diesen Punkt geht. Der Westen, wenn auch nur und häufig aus Gründen der wirtschaftlichen Expansion, ist auf die anderen Zivilisationen neugierig gewesen. Häufig hat er sie verächtlich abgetan: Die Griechen bezeichneten diejenigen als Barbaren, das heißt also als Stotterer, die nicht die griechische Sprache beherrschten, und daher war es, als ob sie überhaupt nicht sprechen könnten.

Aber reifere Griechen, wie die Stoiker (vielleicht weil einige unter ihnen phönizischen Ursprungs waren), haben bald darauf bemerkt, dass die Barbaren eine andere als die griechische Sprache benutzten, sich aber auf dieselben Gedanken bezogen. Marco Polo hat versucht, die Sitten und Bekleidung der Chinesen mit großem Respekt zu beschreiben; die großen Kirchenlehrer der christlichen Theologie des Mittelalters haben sich darum bemüht, sich die Texte der arabischen Philosophen, Medici und Astrologen übersetzen zu lassen; die Männer der Renaissance haben sogar in ihren Bemühungen übertrieben, verloren gegangene Weisheiten der Orientalen, von den Chaldäern bis zu den Ägyptern, aufzuspüren; Montesquieu hat sich vorzustellen versucht, wie wohl ein Perser die Franzosen verstehen würde; und die modernen Anthropologen haben sich als erstes Forschungsobjekt die Salesianer ausgesucht, die zwar zu den Bororo gingen, um sie ­ nach Möglichkeit ­ zu bekehren, aber auch um zu verstehen, wie sie dachten und lebten.

Ich habe die Anthropologen erwähnt und sage nichts Neues, wenn ich daran erinnere, dass sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Kulturanthropologie als Versuch entwickelt hat, die Gewissensbisse des Westens angesichts der Anderen zu besänftigen ­ besonders angesichts jener Anderen, bei denen es sich um definitiv Wilde, Gesellschaften ohne Geschichte und primitive Völker handelte.

Die westliche Kultur hat die Fähigkeit entwickelt, ihre eigenen widersprüchlichen Bedingungen freimütig offen zu legen und zu diskutieren

Der Westen ist mit den Wilden nicht gerade zartfühlend umgegangen: Er hat sie "entdeckt", sie zu bekehren versucht, sie ausgebeutet und viele von ihnen auch mit Hilfe der Araber in die Sklaverei gebracht, denn die Sklaven, die in New Orleans von gepflegten Edelleuten französischen Ursprungs entladen wurden, waren an den afrikanischen Küsten von muselmanischen Händlern verschifft worden. Die Aufgabe der Kulturanthropologie bestand darin aufzuzeigen, dass Logiken existierten, die von der westlichen Logik verschieden und ernst zu nehmen, nicht aber zu verachten und zu unterdrücken waren.

Dies hatte nicht zu bedeuten, dass die Anthropologen, nachdem sie einmal die Logik der Anderen erklärt hatten, beschlossen haben, wie diese zu leben; daher kehrten sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nach Beendigung ihrer langjährigen Feldarbeit in Übersee nach Devonshire oder in die Picardie zurück, um dort einen unbeschwerten Lebensabend zu genießen. Liest man jedoch ihre Bücher, so könnte man zu dem Schluss kommen, die Kulturanthropologie nehme eine relativistische Position ein und behaupte, eine Kultur sei so gut wie eine andere. Das scheint mir nicht so zu sein. Höchstens sagt der Anthropologe uns, dass man ihre Lebensweise respektieren müsse, jedenfalls so lange, wie die Anderen zu Hause bleiben.

Die eigentliche Lektion, die man aus der Kulturanthropologie lernen muss, ist viel eher, dass man sich auf Parameter einigen muss, wenn man sagen will, dass eine Kultur einer anderen überlegen sei.

Eine Sache ist es zu sagen, was eine Kultur ist, und eine andere Sache, auf Grund welcher Parameter wir sie beurteilen. Eine Kultur kann auf objektive Weise beschrieben werden: Diese Personen verhalten sich so, glauben an Geister oder an einen einzigen Gott, der allein die ganze Natur erfüllt, leben nach diesen oder jenen Regeln in Familienverbänden, halten es für schön, sich die Nase mit Ringen zu perforieren (dies könnte eine Beschreibung der Jugendkultur im Westen sein), halten Schweinefleisch für unrein, lassen sich beschneiden, ziehen Hunde groß, um sie an Festtagen in den Kochtopf zu geben, oder ­ wie noch die Amerikaner über die Franzosen sagen ­ essen Frösche.

Eine andere Sache sind die Parameter der Beurteilung. Sie hängen von unseren Wurzeln ab, von unseren Präferenzen, unseren Gewohnheiten, unseren Leidenschaften, unserem Wertesystem.

Nehmen wir ein Beispiel. Halten wir die Verlängerung der menschlichen Lebensdauer von durchschnittlich 40 auf 80 Jahre für einen Wert? Ich persönlich bin davon überzeugt, aber Mystiker könnten mir entgegenhalten, dass zwischen einem Schlemmer, der 80, und dem Heiligen Luigi Gonzaga, der nur 23 Jahre alt wurde, der Letztere ein erfüllteres Leben gehabt habe. Aber nehmen wir einmal an, die Verlängerung der Lebensdauer sei ein Wert an sich: Wenn dem so ist, so sind die westliche Medizin und Wissenschaft gewiss vielen anderen Wissensformen und medizinischen Praktiken überlegen.

Glauben wir, dass die technologische Entwicklung, die Expansion des Handels, die Geschwindigkeit der Transporte Werte an sich sind? Viele sind davon überzeugt und haben das Recht, unsere technische Zivilisation für überlegen zu halten.

Aber innerhalb der westlichen Welt gibt es eben jene, die einem Leben in Harmonie mit einer unzerstörten Umwelt einen höheren Wert beimessen und daher bereit sind, auf Flugreisen, Autos und Kühlschränke zu verzichten, um Körbe zu flechten und zu Fuß ins Dorf zu gehen, nur um kein Ozonloch zu haben.

Und daher sehen Sie, dass ­ will man eine Kultur als der anderen überlegen definieren ­ es nicht genügt, sie zu beschreiben (wie der Anthropologe dies tut), sondern man sich auf ein Wertesystem berufen muss, das wir für unverzichtbar halten. Nur in diesem Punkt können wir sagen, dass unsere Kultur, für uns, besser ist.

Man stelle sich vor, die islamischen Fundamentalisten würden eingeladen, den christlichen Fundamentalismus zu studieren ­ sie würden den eigenen besser verstehen

Die Verfechter des Dialogs fordern von uns Respekt vor der islamischen Welt und erinnern daran, dass es Männer wie Avicenna (der in Buchara geboren wurde, unweit des heutigen Afghanistan) und Averroes gegeben hat ­ und es ist eine Sünde, dass immer wieder nur diese beiden angeführt werden, als wären sie die Einzigen. Nicht die Rede dagegen ist von Alkindus, Avempace, Avicebron, Ibn Tufail oder von jenem großen Historiker des 14. Jahrhunderts, der Ibn Chaldun hieß und den der Westen als eigentlichen Begründer der Sozialwissenschaften betrachtet. Wir erinnern uns, dass die Araber aus Spanien schon Geografie, Astronomie, Mathematik oder Medizin pflegten, als man in der christlichen Welt noch ziemlich weit hinterherhinkte.

Das alles stimmt, aber es handelt sich nicht um Argumente. Denn wollte man auf diese Weise räsonieren, so hieße dies zu behaupten, dass Vinci, eine vortreffliche Gemeinde in der Toskana, New York deshalb überlegen sei, weil Leonardo in Vinci zu einer Zeit geboren wurde, in der in Manhattan vier Indianer auf dem Boden saßen und mehr als 150 Jahre darauf warteten, dass die Holländer landeten, damit diese ihnen die Halbinsel für 60 Gulden abkauften. Dies ist aber unzutreffend, und ­ ohne irgendjemanden beleidigen zu wollen ­ das Zentrum der Welt ist heute New York und nicht etwa Vinci. Die Dinge verändern sich.

Es nützt nichts, sich daran zu erinnern, dass die Araber aus Spanien sich Christen und Juden gegenüber als ziemlich tolerant erwiesen, während von uns die Ghettos überfallen wurden, oder dass Saladin nach der Rückeroberung Jerusalems den Christen gegenüber viel barmherziger war, als die Christen den Sarazenen gegenüber gewesen waren, nachdem diese Jerusalem erobert hatten. Alles Tatsachen, aber in der arabischen Welt gibt es heute fundamentalistische und theokratische Regime, die die Christen dort nicht tolerieren, und Osama Bin Laden ist mit New York nicht gerade barmherzig umgegangen. Andererseits haben die Franzosen in der Bartholomäusnacht ein Massaker veranstaltet, aber dies gestattet es niemandem, sie heute als Barbaren zu bezeichnen.

Wir wollen nicht die Geschichte bemühen, da sie eine zweischneidige Waffe ist. Die Türken haben gepfählt (und das ist schlecht), aber die orthodoxen Byzantiner rissen den gefährlichen Verwandten die Augen aus, und die Katholiken verbrannten Giordano Bruno; die sarazenischen Piraten machten Rohes und Gekochtes aus ihren Opfern, während die Korsaren mit Freibrief der britischen Krone die spanischen Kolonien in der Karibik in Brand setzten; Bin Laden und Saddam Hussein sind zwar eingeschworene Feinde der westlichen Zivilisation ­ aber innerhalb dieser westlichen Zivilisation hatten wir es mit Herren zu tun, die Hitler oder Stalin hießen (Stalin war so böse, dass er immer als Orientale definiert wird, auch wenn er im Seminar studiert und Marx gelesen hat).

Nein, das Problem der Parameter stellt sich nicht in historischen, wohl aber in zeitgenössischen Kategorien. Einer der lobenswerten Aspekte der westlichen Kulturen (frei und pluralistisch, und dies sind die Werte, die wir für unverzichtbar halten) ist heute, dass man sich seit langem bewusst geworden ist, dass ein und dieselbe Person dazu veranlasst werden kann, bei unterschiedlichen Problemen mit diversen und auch widersprüchlichen Parametern umzugehen. Wir halten beispielsweise die Verlängerung der Lebensdauer für gut und die Umweltverschmutzung für schlecht, aber empfinden es als gut, dass man vielleicht ­ um die großen Labors zu unterhalten, in denen über die Verlängerung der Lebensdauer geforscht wird ­ ein energetisches Kommunikations- und Versorgungssystem benötigt, das seinerseits die Umweltverschmutzung nach sich zieht.

Die westliche Kultur hat die Fähigkeit entwickelt, ihre eigenen widersprüchlichen Bedingungen freimütig offen zu legen. Vielleicht löst sie diese nicht, aber man weiß, dass es sie gibt, und man spricht darüber. Letzten Endes findet sich die ganze Debatte um Global-ja und Global-nein hier: Wie ist ein Ausmaß an positiver Globalisierung erträglich, das die Risiken und Ungerechtigkeiten der perversen Globalisierung vermeidet; wie kann man das Leben auch der Millionen Afrikaner verlängern, die an Aids sterben (und zugleich auch das unsere verlängern), ohne eine weltumspannende Ökonomie zu akzeptieren, die die an Aids Erkrankten vor Hungers sterben und uns verseuchte Nahrung herunterschlucken lässt?

Doch genau diese Kritik der Parameter, die der Westen verfolgt und ermutigt, lässt uns begreifen, dass die Frage der Parameter delikat ist. Ist es richtig und zivilisiert, das Bankgeheimnis zu schützen? Viele sind davon überzeugt. Wenn aber dieses Geheimnis den Terroristen erlaubt, ihr Geld in der City von London zu halten? Ist dann die Verteidigung der so genannten Privacy ein positiver oder ein zweifelhafter Wert?

Wir stellen unsere Parameter ständig zur Diskussion. Die westliche Welt macht dies in einem solchen Ausmaß, dass sie es den eigenen Bürgern zugesteht, den Parameter der technischen Entwicklung nicht als positiv anzuerkennen und Buddhisten zu werden oder aber in einer Gemeinschaft zu leben, die keine Reifen benutzt, nicht einmal für Pferdekutschen. Die Schule muss lehren, die Parameter, auf denen unsere leidenschaftlichen Behauptungen beruhen, zu analysieren und zu diskutieren.

Das Problem, das die Kulturanthropologie nicht gelöst hat, lautet: Was macht man, wenn ein Mitglied einer Kultur, deren Prinzipien wir sogar zu respektieren gelernt haben, zu uns zieht und bei uns leben möchte? In Wirklichkeit ist die Mehrzahl der rassistischen Reaktionen im Westen nicht auf die Tatsache zurückzuführen, dass in Mali Animisten leben, sondern dass sich die Animisten bei uns ansiedeln. Was ist aber, wenn sie den Tschador tragen und wenn sie ihre Mädchen infibulieren (Vernähen der Vagina bis zur Hochzeitsnacht, A. d. Ü.) wollen, wenn sie (wie dies bei bestimmten Sekten im Westen der Fall ist) die Bluttransfusion für ihre kranken Kinder ablehnen, wenn der letzte Menschenfresser aus Neuguinea (falls es diese noch gibt) zu uns emigrieren und sich wenigstens jeden Sonntag einen kleinen Jungen rösten möchte?

Bei dem Menschenfresser sind wir alle einer Meinung: Er wird ins Gefängnis gesteckt. Bei den Mädchen, die im Tschador zur Schule gehen, sehe ich nicht ein, weshalb wir daraus eine Tragödie machen sollten, wenn es ihnen gefällt. Über die Infibulation dagegen ist die Debatte eröffnet (das gilt sogar für denjenigen, der so tolerant ist vorzuschlagen, diese solle von ört-lichen Krankenstationen vorgenommen werden, weil dann die Hygiene gesichert ist). Was aber machen wir beispielweise mit der Forderung, die muslimischen Frauen sollten für die Passfotos mit Schleier fotografiert werden dürfen?

Wir haben Gesetze, die für jedermann gelten und die Kriterien für die Identifizierung der Bürger aufstellen. Und ich glaube, dass man davon nicht abweichen kann. Wenn ich eine Moschee besuche, ziehe ich mir die Schuhe aus, weil ich die Gesetze und Gebräuche des Gastgeberlandes beachte. Wie halten wir es da mit einem Foto mit Schleier? Ich glaube, dass man in solchen Fällen verhandeln kann. Letzten Endes sind Passfotos ohnehin nur bedingt tauglich. Womöglich hilft man sich demnächst mit einem Fingerabdruck im Pass. Wenn Musliminnen ihrem eigenen Kleiderkodex folgen, aber unsere Schulen besuchen würden, könnten sie auch von Rechten erfahren, die sie nicht zu besitzen glauben ­ so wie viele aus dem Westen die Koranschulen besucht und sich aus freien Stücken entschlossen haben, Muslim zu werden.

Seit einigen Jahren gibt es eine internationale Organisation mit dem Namen Transcultura, die eine "alternative Anthropologie" verficht. Sie hat afrikanische Forscher, die nie im Westen gewesen sind, dazu angeregt, die französische Provinz und die Gesellschaft von Bologna zu beschreiben, und ich versichere Ihnen, dass ­ als wir Europäer gelesen haben, dass zwei der überraschendsten Beobachtungen das Faktum betrafen, dass die Europäer ihre Hunde spazieren führen und man am Strand nackig herumläuft ­ der gegenseitige Blick von beiden Seiten zu funktionieren begonnen hat und daraus interessante Diskussionen entstanden sind.

Man stelle sich vor, die islamischen Fundamentalisten würden eingeladen, den christlichen Fundamentalismus zu erforschen ­ diesmal kommen keine Katholiken ins Spiel, sondern protestantische Amerikaner, die fanatischer als ein Ajatollah sind und in den Schullehrbüchern jeden Hinweis auf Darwin tilgen möchten. Nun, ich glaube, dass das anthropologische Studium des Fundamentalismus anderer dazu dienen könnte, die Natur des eigenen besser zu verstehen. Sie kämen dazu, unser Konzept des Heiligen Krieges zu ergründen (ich könnte ihnen viele interessante Schriften empfehlen, auch neueren Datums), und vielleicht sähen sie die Vorstellung vom Heiligen Krieg in ihrem Fall mit kritischeren Augen. Eigentlich haben wir im Westen über die Grenzen unserer Denkweise nachgedacht, indem wir "La pensée sauvage" ("Das wilde Denken") beschrieben haben.

Einer der Werte, von denen in der westlichen Zivilisation viel gesprochen wird, ist die Akzeptanz der Differenzen. Theoretisch sind wir uns alle einig, dass es politically correct ist, in der Öffentlichkeit zu sagen, jemand sei gay, aber zu Hause redet man dann kichernd von einem Schwulen. Wie stellt man es an, die Akzeptanz der Differenz zu lehren? Die Académie universelle des cultures hat eine Website ins Internet gestellt, auf der sich Materialien über diverse Themen finden lassen (Hautfarben, Religionen, Sitten und Gebräuche und so weiter), und zwar für Pädagogen eines jeden Landes, die ihren Schülern beibringen möchten, wie sie jene akzeptieren, die anders sind als sie selbst.

Zunächst hat man beschlossen, den Kindern keine Lügen aufzutischen, indem man behauptet, alle Menschen seien gleich. Die Kinder bemerken sehr wohl, dass einige Nachbarn oder Klassenkameraden nicht so sind wie sie selbst, sondern eine andere Hautfarbe, Mandelaugen, volleres oder glatteres Haar haben, seltsame Dinge essen und nicht zur Ersten Heiligen Kommunion gehen. Auch genügt es nicht, ihnen zu sagen, dass jeder ein Geschöpf Gottes sei, weil auch die Tiere Geschöpfe Gottes sind, und dennoch haben die Kinder nie eine Ziege im Klassenzimmer gesehen, die ihnen die Rechtschreibung beibringt.

Man muss den Kindern also beibringen, dass die menschlichen Wesen untereinander sehr verschieden sind, und ihnen genau erklären, worin diese sich unterscheiden, um dann aufzuzeigen, dass diese Unterschiedlichkeiten ein Quell der Bereicherung sein können. Ein Lehrer in einer italienischen Stadt müsste seinen italienischen Schülern helfen zu begreifen, warum andere Kinder zu einer anderen Gottheit beten oder eine andere Musik spielen, die sich anders anhört als Rock'n'Roll. Natürlich müsste ein chinesischer Lehrer chinesischen Kindern, die in der Nachbarschaft einer christlichen Gemeinde leben, dasselbe beibringen. Der nächste Schritt wäre dann aufzuzeigen, dass deren und unsere Musik Gemeinsamkeiten besitzen und dass auch ihr Gott einige gute Dinge empfiehlt.

Möglicher Einwand: Wir tun es in Florenz, aber machen sie es auch in Kabul? Nun, dieser Einwand ist so weit wie nur möglich von den Werten der westlichen Zivilisation entfernt. Wir begreifen uns als pluralistische Gemeinschaft, weil wir es zulassen, dass bei uns Moscheen gebaut werden, und wir nicht darauf verzichten können, nur weil sie in Kabul die christlichen Propagandisten ins Gefängnis werfen. Wenn wir es doch täten, würden auch wir zu Taliban werden.

Wir hoffen, dass ­ da wir die Moscheen bei uns zulassen ­ es eines Tages christliche Kirchen bei ihnen gibt oder sie die Buddha-Figuren bei sich nicht bombardieren.

In diesen Zeiten kommen viele merkwürdige Dinge ans Tageslicht. Es scheint so, als wäre die Verteidigung der westlichen Werte die ureigenste Angelegenheit der Rechten geworden, während die Linke sich wie üblich philo-islamisch gibt.

Dabei ist die Verteidigung der Werte der Wissenschaft, des technischen Fortschritts und der modernen Kultur des Westens im Allgemeinen stets ein Merkmal der laizistischen und fortschrittlichen Flügel gewesen. Auf eine Ideologie des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts haben sich auch alle kommunistischen Regime berufen. Das Kommunistische Manifest von 1848 beginnt mit einer unbefangenen Würdigung der bürgerlichen Expansion. Marx sagt nicht etwa, dass man das Rad neu erfinden und zur asiatischen Produktionsweise übergehen müsse ­ er sagt vielmehr, das Proletariat müsse sich bestimmte Werte und Errungenschaften des Bürgertums aneignen.

Umgekehrt ist es immer das reaktionäre Denken (im vornehmsten Sinn des Wortes) gewesen, zumindest beginnend mit der Ablehnung der Französischen Revolution, das sich der laizistischen Ideologie des Fortschritts entgegengestellt hat mit der Forderung, man müsse sich den Werten der Tradition zuwenden. Die ernsthafteren unter den Denkern der Tradition haben sich immer, neben den Riten und Mythen der primitiven Völker oder der buddhistischen Lehre, dem Islam als noch stets aktuellem Quell alternativer Spiritualität zugewendet. Es waren stets sie, die uns daran erinnert haben, dass wir ­ wenngleich von der Ideologie des Fortschritts ausgetrocknet ­ nicht überlegen sind und dass wir die Wahrheit bei den mystischen Sufis oder bei den tanzenden Derwischen suchen müssen.

In diesem Sinn öffnet sich derzeit eine sonderbare Kluft. Aber vielleicht ist dies auch nur ein Zeichen dafür, dass in einer Zeit großer Verwerfungen (und gewiss leben wir in einer solchen) niemand mehr weiß, auf welcher Seite er steht.

Gerade in einer solchen Zeit muss man es verstehen, dem eigenen Aberglauben wie dem der anderen entgegenzutreten: mit den Waffen der Analyse und Kritik. Ich hoffe, dass diese Themen nicht nur bei Pressekonferenzen angesprochen werden, sondern auch in den Schulen.

Übersetzung aus dem Italienischen: Helmut Mennicken.

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