Predigten

 

Der Weg aus der Kälte in die Wärme

Liebe Gemeinde,

bevor ich das Sonntagsevangelium lese zunächst ein paar Fragen zum Einstieg:

Worunter leidet denn die heutige, die moderne Gesellschaft am meisten? Ist es nicht eine bestimmte Kälte, die in die zwischenmenschlichen Beziehungen eingezogen ist, ein Frost, der die Gefühle erstarren lässt, nicht nur in Politik und Wirtschaft, wo solche nicht erlaubt sind, sondern auch in der Freizeit, im Privaten, wo der Mensch sich heute trimmen muss, wo er bei Lärm und Lust den Frust vergessen will? »Cool« ist das Modewort, das unserer Zeit den Stempel aufdrückt. Und Cool-sein heißt Kalt-sein.

Eine weitere Frage: Was trägt Sie? Oder – was unendlich schöner wäre – wofür die früheste Kindheit ein Gleichnis sein könnte: Wer trägt Sie? Im Gleichnis gesprochen: auf seinen Armen? Also, was ist – oder wer ist – die Basis für das Leben? Dessen innerer Grund?

Oder fühlen Sie sich ortlos irgendwo und irgendwie zwischen Himmel und Erde? Tasten Sie deswegen nach dem Grund? Einem Grund, der trägt – im Leben und im Sterben? Manche basteln sich selber einen solchen: aus religiösen und pseudoreligiösen Versatzstücken. Aber das geht nicht. Auf den Werten und Idealen, die wir hochhalten, brechen wir ein beim ersten kleinen Beben, das unsere Existenz erschüttert. Denn sie sind Luftgespinste, Erfindungen des menschlichen Geistes, die zeitlich und vergänglich sind und aus denen Verwesungsgeruch ausströmt.

Aber nun zum Text aus dem Evangelium nach Lukas 7,26-50

Liebe Gemeinde!

Diese Geschichte weist den Weg aus der Kälte in die Wärme. Den Weg zum großen Gefühl. Sie rechtfertigt es und, was noch mehr ist, sie begründet es.

Da ist eine Einladung. Ein Pharisäer, sagen wir dazu: ein .rechtschaffener, anständiger Mann, der die Werte und die Moral seiner Zeit hochhält und auch versucht, danach zu leben, – dieser Mann lädt Jesus ein. Der nimmt die Einladung an.

Der Gastgeber meint, mit der Einladung schon sehr viel, vielleicht schon zu viel, getan zu haben. Denn der Empfang ist sehr zurückhaltend. Das übliche Fußbad unterbleibt, auch der Begrüßungskuss. 

Ich stelle mir das Essen abends vor. Öllämpchen brennen. Nicht viele, Festcharakter hatte das Ganze nicht, eher den eines Informationsabends, bei dem der Gast, von dem man schon viel und Unterschiedliches gehört hat, getestet werden soll.

Aber draußen steht die große warme Nacht, und die Gestirne funkeln. Das ist der Hintergrund – ob er sprechen darf? Denn im Vordergrund ist der small talk der Gesellschaft: »Möchten Sie roten oder weißen Wein?«

Und plötzlich kommt es zur Störung. Durch eine Frau. Sie ist getrieben von ihrem großen Gefühl. Zu dem sich Jesus bekennt und das er bejaht. Und der damit das schwache Gefühl des Simon beschämt. -

Und so sind wir, liebe Gemeinde, zunächst einmal eingeladen, nach unseren Gefühlen zu fragen. Es scheint, dass wir in einer Zeit des Niedergangs der Gefühle leben. Michel Houlebecq, derzeitiger Kultautor Frankreichs, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel »Ausweitung der Kampfzone«. Darin seziert der Ich-Erzähler, ein junger Informatiker, mit gnadenlosem Blick die Welt, in der wir leben – und erklärt sie zur gefühlsfreien Kampfzone.

Er spricht darin den Leser ganz direkt an. Erinnert ihn an seine Kindheit und Jugendzeit , wo noch Neugier auf die Welt und Lebenshunger war, aber mit dem Älterwerden kommt das Gefühl der universellen Leere und Einsamkeit. Man ist von Etiketten und Vorschriften eingemauert. Aber irgendwann will man ausbrechen. Das Leben wird zum Kampf um einen Platz an der künstlichen Sonne der Gesellschaft, wo man gesehen und angesehen ist. Aber hier ist Kälte, Eiseskälte. Tiefe Gefühle kann man sich nicht mehr erlauben. Vor allem nicht das Gefühl der Dankbarkeit.

Ist das eine richtige Beschreibung unserer Lebenswelt? Vermutlich werden wir uns wehren und sagen: das ist doch alles übertrieben. Ja, ein Schriftsteller muss überzeichnen, damit die Welt, in der wir leben, kenntlich wird. Und wir alle haben ja daran irgendwie teil, mehr oder weniger.

Wir müssen uns schon den Fragen stellen, mit denen ich eingangs den Text einführte. Gefühle sind offensichtlich so etwas wie Ausläufer von Erdbeben, die unsere Existenz erschüttern.

Im Leben des Gastgebers Simon hatte offenbar noch kein solches Beben stattgefunden. Er lebte in einem abgesicherten Gehäuse aus Wohlanständigkeit und Moral. Das schaffte ihm Achtung und Beachtung. Das gab ihm Sicherheit und Halt. Ich kann das gut verstehen. Denn ich kenne dieses Gehäuse – von innen.

Aber ich ahne auch, dass es nicht erdbebensicher ist. Nicht auf Dauer. Der traurige Held in jenem Roman von Houlebecq, der sich selber, sein Leben nicht mehr fühlte, kann am Ende nur noch an Selbstmord denken. Die Kälte, die gemimte Coolness bringt ihn um.

Ihn hat kein Erbeben mehr erschüttert. Jedenfalls keines, das sein Gehäuse aufgebrochen hätte.

Die Frau, die jenes Gastmahl, das Dinner bei Herrn Simon störte, ist zutiefst erschüttert. Hier hat ein Beben stattgefunden. Und wenn wir fragen: »Wann?« dann sagt sie: »Gestern Abend«. Es kann auch vorgestern gewesen sein. Daran hängt nichts. Aber alles hängt an einem Vorgang, der tatsächlich geschehen ist. Und den Jesus mit seiner kleinen Beispielgeschichte erwähnt:

Die Geschichte von den zwei Schuldnern, dem kleinen und dem großen. Dem mit den 500 DM und dem mit den 50 000, die beide einem Kredithai in die Finger geraten sind. Und die beide von einem großzügigen Geber ausgelöst wurden. Der mit den 50 000 hätte es nie mehr geschafft, von den Schulden runterzukommen.

Übersetzt in die Wirklichkeit, heißt das: Gestern Abend oder vorgestern, da sprach Jesus zu der Menge auf dem Marktplatz. Ein paar Ölfunzeln auch hier. Und sie, die das ganze Städtchen »die große Sünderin« nennt, – sie hat sich hergetraut. Die große Sünderin – war sie eine Prostituierte, eine Wahrsagerin? – es wird nicht gesagt. Daran hängt auch nichts. Aber alles hängt daran, dass vorgestern Abend, als sie Jesus hörte, in ihr ein Beben stattfand, eine Erschütterung. Seine Worte haben das Beben ausgelöst. Sie, die sich als Abschaum fühlte, als Ausgestoßene, die die Achtung vor sich selber verloren hatte, fühlte sich auf einmal zutiefst verstanden und angenommen – im Namen Gottes angenommen und gewürdigt.

Das Beben hat ihr Lebenshäuschen nicht umgeworfen; das war ja schon eine Ruine. Das Beben hat ihr merkwürdigerweise Boden unter die Füße geschoben.

Und so entstand in ihr das große Gefühl. Und Dankbarkeit überwältigte sie.

Und es sprachen zu ihr nicht mehr die dürftigen Ölfunzeln, sondern die große Nacht des Südens; und die Gestirne funkelten ihr die Barmherzigkeit Gottes zu. Und das Gefühl der Liebe und Dankbarkeit trieb alle Frucht aus vor der ach so anständigen Männergesellschaft, die sich zum Tischgespräch, zum small talk, bei Simon zusammengefunden hatte.

Ach dass doch auch bei Simon ein Beben stattfände, damit er sieht, dass sein Lebensgrund, gezimmert aus Sitte und Moral und Ansehen in der feinen Gesellschaft, nicht wirklich als Lebensbasis taugt.

Aber was nicht ist, kann ja noch geschehen. Behutsam wird er – und werden wir ja – in diese Geschichte mit hineingenommen: in die Geschichte von Schuld und Vergebung.

»Und er wandte sich der Frau zu und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau ... ?« – so heißt es in dieser Geschichte. Und dann erzählt er das Gleichnis von den beiden Schuldnern.

Gestern hat der Kronprinz von Norwegen eine Frau mit Vergangenheit geehelicht. Sie verkehrte offenbar im Drogenmilieu und hat ein uneheliches Kind. Die Mehrzahl der Norweger lehnt diese Ehe ab. Sie ist nicht standesgemäß. Wie berichtet wurde, flossen auch bei dieser Frau Tränen, als sie im Fernsehen über ihre Vergangenheit sprach. Das Ansehen des Königshauses ist bei den Norwegern gesunken.

Was würde Jesus dazu sagen?

Siehst du die Frau? fragt er Simon. Aber der sieht nur ihren Ruf, ihre Vergangenheit, gegen die die Frau vergeblich angekämpft hat. Und noch in dem, was sie an Jesus tut, sieht sein Blick Zweideutiges. Und dieses Sehen verstellt ihm den wahren Blick, den Blick auf sich selbst. Aber nun ist er ja in der Geschichte mit drin. Durch Jesu Gleichnis lernt er sich selber sehen – im Vergleich zur Frau. In diesem Vergleich ist seine Schuld geringer. Aber auch seine Liebe ist um vieles geringer.

Was er im Gegensatz zu dieser Frau schuldig geblieben ist, das ist die Liebe. Die Liebe auch zu Jesus als seinem Gast. Und heißt das nicht: die Liebe auch zu Gott, der ihm in Jesus ganz nahe gekommen ist?

»Was ist aber nun die wirkliche Basis in deinem Leben, Simon? Das hohe Ansehen das du bei den Leuten genießt? Die Vorschriften, die du beachtest. Dein moralischer Lebenswandel. Das ist das Gehäuse, in dem du bisher gelebt hast. Scheinbar erdbebensicher. Vor was du dich am meisten fürchtest ist, dass du von der besseren Gesellschaft nicht mehr geachtet sein könntest.

Furcht aber ist nicht in der Liebe. Und die Liebe gedeiht nicht in der Furcht. Und Gott ist die Liebe. Wer aber in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

Wo bleibst du, Simon? Was ist deine Lebensbasis? Was trägt dich wirklich – im Leben und im Sterben?

Was, glaubst du, wird auf der großen Lebenswaage mehr wiegen: deine Moral oder die Liebe der Frau? Glaubst du etwa, Gott sei der große Schnüffler und du sein Sittenwächter? Wenn das große Buch aufgetan wird, dann wird dort in – großen Lettern stehe:

NICHT EURE SÜNDE WAR ZU GROSS, – SONDERN: EURE FREUDE WAR ZU KLEIN!«

Wie wird die Geschichte weitergehen, liebe Gemeinde? Es wird nicht erzählt. Nicht, ob die Frau zurückgefunden hat in ein normales Leben und auch nicht, ob Simons Lebensgehäuse gebebt hat, ob ein Wärmestrom in sein Lebenshaus gezogen ist. Die Geschichte ist offen, offen für uns, damit auch wir uns hineinziehen lassen in den großen Wärmestrom der Liebe Gottes.

Bei Franz Kafka lese ich den Satz: »Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.«

Gebe Gott, dass der warme Wind des Evangeliums das »gefrorene Meer in uns« immer wieder zum Schmelzen bringt.
Amen
 

 

 

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