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Predigt über das Lied zur Jahreswende von Jochen Klepper »Der du die Zeit in Händen hast« (EG 64) am 31.12.2002

»Der du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last,
und wandle sie in Segen.«

Liebe Gemeinde!

Was ist die Last des Jahres 2002, das heute zu Ende geht?
Ich denke an die Folgen des 11. September 2001, die wir das letzte Jahr
gespürt haben,
an die Flut, die im Osten soviele Existenzen zerstörte,
an den Anschlag auf die Oper in Moskau und den nicht enden wollenden krieg in
Tschetschenien,
an den fortschreitenden Hunger in Afrika...

Und dann ist da noch die Last, die jeder und jede einzeln zu tragen hat.
DieTrauer um einen geliebten Menschen, der Schmerz einer Trennung,
Enttäuschungen, Verletzungen....
Lassen wir uns von Jochen Klepper einladen, diese Last heute abend in Gottes
Hände zu legen.
Seinem Lied wollen wir heute am letzten Tag des Jahres 2002 nachspüren.

Was hat es uns zum Jahreswechsel zu sagen ?
Vielleicht lassen sie es gerade einmal aufgeschlagen. Dann können wir
zwischendurch hin und wieder eine Strophe singen.
1938 wurde das Lied in der Neujahrsausgabe der Deutschen Allgemeinen Zeitung
das erste Mal veröffentlicht. Am Abend zuvor, am Silvesterabend des Jahres
1937 schreibt der Autor Jochen Klepper in sein Tagebuch:
»Das schwerste, schönste und bedeutsamste Jahr meines Lebens durfte
beschlossen sein im Gebet. - Gott hat im alten Jahr ein neues Lied
gegeben. Das muss nun geglaubt sein. « (Rößler S. 955)
1937 ist das Jahr, in dem Jochen Klepper das Kirchenlied für sich entdeckt.
Er schreibt die Lieder »wenn mir um Trost sehr bange ist«. Ich glaube darin
liegt ihre große Wirkung. Kleppers Lieder sind der selbst erfahrenen Not und
des selbst gelebten Glaubens an Gott entsprungen. Der Autor war auf ganz
existentielle Weise der erste Hörer seiner Lieder.
Welche Freude, welche Not hat ihn bewegt?

Lassen Sie uns einen kleinen Blick in das Leben Jochen Kleppers werfen. Wenn
wir ihn verstehen, spricht auch sein Lied nocheinmal anders zu uns.
Jochen Klepper wurde vor fast 100 Jahren, am 22. März 1903 in der
niederschlesischen Kleinstadt Beuthen an der Oder geboren. Mit vier
Geschwistern wächst er in einem Pfarrhaus auf. Seine Mutter stammt aus
großbürgerlichen katholischem Haus und ermöglicht der Familie einen
großzügigen Lebensstil mit Auto, Filmkamera und regelmäßigen Urlaubsreisen.
Andere können in dieser Zeit von so etwas nur träumen.
Sein ganzes Theologiestudium über schwankt Jochen Klepper zwischen den zwei
Welten, die seine Eltern repräsentieren, einer lutherisch-konservativen
Ordnung, und dem freien Leben der Schriftsteller, Künstler und Schauspieler.
Die meiste Zeit des Studiums verbringt er in Breslau.
Nach dem Studium entscheidet er sich 1927 gegen den Pfarrberuf. Er beginnt
Manuskripte zu verkaufen und bekommt eine feste Anstellung beim Schlesischen
Presseverband.
1929 heiratet er die wohlhabenden Witwe eines Rechtsanwalts. Hanni Gerstel-
Stein bringt zwei Töchter mit in die Ehe, Brigitte und Renate, 7 und 9 Jahre
alt. Sie ist Jüdin und 13 Jahre älter als Klepper. Jochen Klepper im
Rückblick: »Das war die Rettung von zwei Vereinsamten. Wäre Hanni nicht
gekommen, wäre ich verrückt geworden.«

»Jochen Klepper - ein Leben zwischen Idyllen und Katastrophen« - so hat
Rita Thalmann ihre Klepper-Biographie betitelt. Klepper liebte die Idyllen.
Mit seiner Frau Hanni versuchte er den großbürgerlichen Lebensstil, den er
von seiner Mutter kannte, weiter zu leben, auch wenn das Geld knapp war.
Schöne großzügige Wohnungen waren ihm und seiner Frau wichtig. Je nach
Jahreszeit standen passende Blumen im Klepperschen Haus, die christlichen
Feste hatten im häuslichen Leben einen hohen Stellenwert. Das Kichenjahr
bestimmte den Ablauf der Jahres. - »Der du die Zeit in Händen hast...«
Doch dieses bürgerliche Leben war durch die politischen Ereignisse ständig
bedroht.
Beruflich ist das zuende gehende Jahr 1937 ein Erfolg. Sein großer Roman »Der
Vater« über Friedrich Wilhelm I. kommt auf den Markt und findet reißenden
Absastz. Das Reichskriegsministerium empfiehlt es für Heer, Marine und
Luftwaffe. Gleichzeitig wird Klepper wegen seiner jüdischen Ehefrau aus der
Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Auf einer Tagung der
Reichskulturkammer wird stolz Bilanz gezogen: Bereits 30.000 Juden seien aus
dem deutschen Kulturleben enttfernt. Zum ersten Mal denken die Kleppers
ernsthaft über Auswanderungsmöglichkeiten für die beiden Töchter nach.
Klepper schreibt an Propagandaminister Goebbels und bittet um Druckerlaubnis
für seine Manuskripte. Die Tagebuchaufzeichnung vom 12. Dezember 1937: »Den
Brief an Goebbels mußte ich mit »Heil Hitler!« unterschreiben. Ich habe nun
das letzte auf mich genommen.« Das erste war der Austritt aus der SPD
gewesen. Hin- und hergerissen zwischen ERfolg und Niederlage, zwischen
Zuversicht und Angst vor der Zukunft, zwischen Idyllen und sich andeutenden
Katastropen beendet Klepper das Jahr 1937 mit diesem Lied.

Lassen Sie uns vor diesem Hintergrund die erste Strophe nocheinmal singen:
»Der du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last,
und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesus Christ
die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.«

Die Zeit entgleitet meinen Händen - dieses Gefühl habe ich oft am Ende
eines Jahres. Vielleicht geht es Ihnen auch so...
Schon wieder ein Jahr vergangen -
Habe ich erreicht, was ich wollte?
Bin ich mir klarer geworden, wie es mit meinem Leben weitergehen soll?
Haben solche Fragen in der Hektik des Alltags Platz gefunden?
Was habe ich falsch gemacht?
Was habe ich versäumt gegenüber meinen Mitmenschen?
Wie unvollkommen das vergangene Jahr auch gewesen ist, so sagt uns Kleppers
Lied, wir dürfen es zurücklegen in Gottes Hände.
Und die Unsicherheiten und offenen Fragen, die wir ins neue Jahr hinüber
nehmen? Wir dürfen uns orientieren an dem, der uns Mitte und Ziel sein will.
Ein ungeheurer Zuspruch liegt in diesen Worten.
Worte, die Jochen Klepper sich selber zusprach,
Worte, die aber nicht aus ihm selber kamen.
Sie kamen von außen zu ihm, aus der heiligen Schrift.
Die Worte der Bibel waren innerer und äußerer Maßstab seiner Dichtung.
Seine Dichtung ist dem Wort Gottes unterworfen. Ihre Aufgabe ist es, das
biblische Wort in die heutige Zeit zu übertragen.
Ich lese jetzt Worte aus Psalm 102. Danach lassen Sie uns die Strophen 2 +3
nochmals singen.

»Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage!
Deine Jahre währen für und für.
Du hast vorzeiten die Erde gegründet,
und die Himmel sind deiner Hände Werk.
Sie werden vergehen, du aber bleibst;
sie werden alle veralten wie ein Gewand;
wie ein Kleid wirst du sie wechseln,
und sie werden verwandelt werden.
Du aber bleibst wie du bist,
und deine Jahre nehmen kein Ende.«
(Psalm 102, 25 - 28)

Strophe 2-3

»Der Mensch, sein Tag, sein Werk vergeht,
nur du allein wirst bleiben...«
Jochen Klepper hat erlebt, wie sein Werk vergeht, wenn bestimmte Leute das
Sagen haben: Nicht wegen seiner Ehe und nicht wegen seiner politischen
Vergangheit wird er vor die Schrifttumskammer geladen, sondern wegen der
geistlichen Lieder. Man wendet sich - Zitat: »gegen die knechtische
Haltung der Gestalt Christi gegenüber, wie sie der neue Geist bekämpft.« (S.
955)
Die Nazis haben klar erkannt: in diesen Liedern gibt es nur einen Herrn und
nur einen Gehorsam. Da hat ein menschlicher Führer keinen Platz. Der
glaubende Mensch ist hier kein starker Held, kein Seemann, den nichts
erschüttern kann, sondern ein Suchender und Fragender - »weil wir im Winde
treiben.«

Getrieben zwischen Idyllen und Katastrophen - das war das Leben Kleppers in
diesen Jahren. Und schon früh kommt ihm der Gedanke, mit seiner Frau selber
aus dem Leben zu scheiden, selber den Zeitpunkt des Endes zu bestimmen -
dem Ziel entgegen - bevor sie die Töchter holen, oder gar die Frau, die
noch durch die Ehe mit einem sog. »Arier« geschützt ist -
»Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist.
Du aber bleibest der du bist,
in Jahren ohne Ende.«
So heißt es in der vierten Strophe.

Jochen Klepper ist erschöpft, seelisch und körperlich, entsetzlich müde nach
qualvollen Nächten. Am 12. Juni 1939 schreibt er in sein Tagebuch:
»Am Kirchenlied arbeite ich jeden Tag. Aber ... Leicht läßt Gott uns nicht
singen.« (S. 960)
Um so größer das Erstaunen, dass Menschen ihn verstehen, dass seine Lieder
andere trösten.
Am 12. Dezember 1939 schreibt er:
»Zeilen von mir sollen eine liebe und teure Gabe sein? Ich stehe immer wieder
staunend davor, dass es den Weg vom Schreibtisch zu den fernen Menschen
gibt.« (S. 961)

Liebe Gemeinde!
Ja, diesen Weg vom Schreibtisch zu den Menschen gibt es, auch noch nach 60
Jahren, bis zu uns - gerade weil der, der am Schreibtisch sitzt, diesen
Weg nicht selbstverständlich voraussetzt.
Jochen Klepper hat diese Welt nicht mehr ertragen. Die Spannung zwischen
ersehnten Idyllen und erlebten Katastrophen war zu groß. Die Tochter Brigitte
konnte sich noch nach London absetzen. Die Ausreise der Tochter Renate wird
am 10. Dezember 1942 endgültig abgelehnt. In der Nacht zum 11. Dezember geht
Jochen Klepper mit seiner Frau Johanna und seiner Tochter Renate in den Tod.

Sein Lied bleibt. Es ist im Tod ein Lied gegen den Tod:
Gegen die dunkler werdende Finsternis über den Völkern schaut Klepper auf das
aufleuchtende Licht der Gnade,
gegen Bedrängnis und Barbarei von alle Seiten bezeugt er die von Gott
geschenkte, von Gott gesegnete Freiheit;
gegen die Auswegslosigkeit setzt er das ewige Haus, die Geborgenheit bei
Gott.

Liebe Schwestern und Brüder!
Viele von uns kennen Angst vor der Zukunft, auch wenn wir von Verfolgung und
Krieg nicht direkt bedroht sind.
Angst vor Krieg im Irak - die Aufrüstung ist voll im Gang. Wohin wird uns
dieser Krieg führen?
Angst vor fortschreitender Ausgrenzung Fremder. Denken wir an die Familie
Javari, die kurz vor Weihnachten aus Kusterdingen abgeschoben wurde.
Angst vor Arbeitslosigkeit, vor fortschreitender Krankheit, vor Einsamkeit?
Angst vor der Angst?
Sind nicht wir hier in Tübingen auch hin- und hergerissen zwischen Idyllen
und Katastrophen?

Was immer jede und jeden einzelnen bewegt oder belastet, wir dürfen es vor
Gott bringen. An seinem Tisch dürfen wir es heute am letzten Abend des Jahres
2002 ablegen.
Wir dürfen uns stärken für das neue Jahr am Brot des Lebens und am Kelch des
Heils.
Wir dürfen uns trösten und ermutigen lassen vom Wort Gottes, wie es uns
Jochen Klepper nahe bringt - und mit ihm beten:

»Und diese Gaben, Herr, allein,
laß Wert und Maß der Tage sein,
die wir in Schuld verbringen.
Nach ihnen sei die Zeit gezählt;
was wir versäumt, was wir verfehlt,
darf nicht mehr vor dich dringen.

Der du allein der Ewge heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unserer Zeiten:
bleib du uns gnädig zugewandt,
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.«
Amen

 

 

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