Predigten

 
 

Wir brauchen eine Vision

Ansprache am II. Adventssonntag A, 8./.9.12.2007 in Tübingen und Bühl (Steiger)

Eine der großen Gefahren, die dem menschlichen Geist innewohnt, ist die Perspektivlosigkeit. Wir unterliegen dieser Not andauernd. Kaum ist ein Ziel erreicht, genügt uns dieses schon nicht mehr. Wir wollen weiter, zur nächsten Etappe, höher hinaus womöglich, besser sein. Dabei hätten die meisten von uns vermutlich vergleichsweise wenig Grund zu solcher Skepsis, da ihre Existenz in geordneten Bahnen verläuft, ohne unmittelbare Risiken. Und dennoch nagt die Frage an uns, oehmen, daß wir etwas erreichen wollen, und dabei immer zu kurz greifen. Notgedrungen mußb es denn so gut ist, unser Leben, ob es vielleicht besser sein könnte: ein anderer Beruf, ein neuer Partner, weg aus Tübingen/Bühl, ein Anfang woanders, ein neues Leben. Der Mensch kann das: nachdenken über sich selbst, vergleichen, in Frage stellen. Wir können uns Ziele setzen. Aber dieses Können birgt eben auch die Schwierigkeit in sich, daß wir uns ständig etwas vorn das zur Frustration führen. Mit all unseren Veränderungswünschen und dem tatsächlichen Wandel erreichen wir nämlich nichts Wesentliches. Im Gegenteil: Wir tun so, als hätten wir alles im Griff, der nächste Schritt würde uns endlich herausreißen aus unserer Enttäuschung über das Leben, und in Wahrheit vertrösten wir uns selbst. Das nächste Ziel ist gar nicht das Ziel. Der andere Wohnort macht mich nicht zufriedener, der neue Mensch an meiner Seite ist auch kein größeres Glück, der scheinbar bessere Beruf führt mich wieder in den bekannten Kreislauf der eigenen Erwartungen. Und hinter den bleibe ich zurück; wie auch anders ... Ich will damit nicht sagen - keineswegs will ich das - es gäbe nicht reale Gründe für das Fehlen einer Perspektive: zum Beispiel wenn junge Menschen nach ihren naturgemäß unterschiedlichen Begabungen keinen Beruf finden; oder wenn ein schwerer unerwarteter Schlag alles zunichte macht, was vor einem lag; wenn durch den Wahnsinn einzelner ganzen Völkern die Grundlage entzogen wird. Das stört und zerstört Perspektive. Gleichwohl gilt auch hier die Frage, was das denn für eine Perspektive ist, die wir Menschen für unser Leben haben, worin das Ziel, mein Ziel besteht! Komme ich bis an den Horizont meines Geistes heran? Oder breche ich dann ab, wenn mein kleines, privates Glück in greifbare Nähe gerückt ist?

Den biblischen Texten des II. Advents ist es gemeinsam, daß sie genau das versuchen. Sie suchen sowohl eine individuelle, wie eine globale Vision. Aber eben eine, die diesen Titel zu Recht verdient, weil sie tragfähig ist bis an das vorstellbare Ende meines Lebens und unserer Welt. Nein! Das genügt dort auch noch nicht. Paulus und Jesaja und Matthäus schauen darüber hinaus. Und erst dadurch werden ihre Offenbarungen zur Vision. Sie machen nicht Halt an dem, was ich mir so eben noch vorstellen kann. Sie rühren an die eingefleischten Gewohnheiten, die es verhindern, daß wir an Gottes Möglichkeiten heran kommen. Sie machen uns Mut, daß es heute, 2007, hier, in St. Michael/Pankratius, bei mir, in meinem Leben und in den Beziehungen, in denen ich lebe, daß es wahrhaftig noch etwas zu erreichen gibt, daß etwas möglich ist.
Wie in einer logischen Denkreihe fügen sich die drei Texte mit ihrer Gedankenwelt dabei aneinander, ein theologischer Dreisatz, der zur Nachahmung einladen will. (Ziel - Zusage - Umsetzung). Und nicht zuletzt dazu, ist die Adventszeit für uns Christen da: um Visionäre einer besseren Welt zu sein.

(1) Beginnen müssen wir stets mit einem großen und schönen Ziel, einer intensiven Vorstellung davon, wie alles sein könnte und sein wird, wenn ich alle meine Möglichkeiten, die Gott mir gegeben hat, zusammen nehme; und wenn alle Geschöpfe unter Gottes Sonne dies tun würden. Zuletzt muß ich noch eines tun: Gottes Gnade ein bißchen mehr zutrauen, als ich es jetzt schon erahnen kann. So entsteht das Bild einer neuen Welt, in der ich Teil bin, aber meinen Platz noch bestimmen und finden muß. Jesaja (1. Lesung) hat dies schier unnachahmlich getan in seiner Vision vom Frieden auf Erden, in der eine unvorstellbare Harmonie der Geschöpfe untereinander waltet und die Kraft der Tugenden vorherrscht. Gerechtigkeit und Treue: Wenn wir nur bei all unserem Sinnen und Trachten an diesen beiden unerbittlich festhielten, Schwestern und Brüder, und wir könnten das (!), dann wäre die Verwirklichung des dort beim Propheten Jesaja Vorhergesagten gar nicht mehr fern. Dieses Ziel dürfen wir nicht aufgeben als Christen, andernfalls verraten wir unseren Glauben, in dem wir Christus als jenen bekennen, der aus dem Baumstumpf Isais entsprungen ist. Wo er regiert, dort halten die Menschen an jenem Ziel fest, daß man nichts Böses mehr tut - sonst ist es mit Christi Regiment nicht weit her.

(2) Der zweite Schritt in meinem visionären Dreischritt ist eine Zusage; sie steht in der 2. Lesung. Ohne diese Möglichkeit, mich konkret zu orientieren, also eine Verläßlichkeit für meine Perspektive zu haben, wage ich gar nichts. Paulus kennt diese menschliche Skepsis bei sich selbst und bei seinen Gemeinden. Deshalb bezieht er sich am Ende seines Briefes an die römischen Christen auf die Dokumente, in denen Gott seine Absicht, seinen Horizont schon früher zu erkennen gegeben hat. Im Grunde sagt er einfach: Ich halte mich für meine Lebensperspektive an die alten Verheißungen der Hl. Schrift. Es gibt für mich keinen Grund, sie als Geschwätz abzutun. Etwas Besseres kenne ich nicht - trotz aller philosophischen Erkenntnis und allem Wissen, bei aller Lebenserfahrung. Alles, was einst geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch Geduld und durch den Trost der Schrift Hoffnung haben. Die Bibel zu lesen, Schwestern und Brüder, hilft uns bei unseren Visionen, und es verhindert, daß wir in Perspektivlosigkeit abgleiten.

(3) Der dritte Schritt schließlich steht im Evangelium. Jede Vision braucht eine Umsetzung, braucht die praktische Konkretion über das Denken hinaus. Und weil diese nicht von alleine kommt, muß ich dazu mich selber kritisch in den Blick nehmen. Das Ziel vor Augen, die Zusage im Rücken muß und kann ich einen Schritt tun. Johannes der Täufer sagt, daß dazu ein Sinneswandel notwendig ist, eine Richtungsänderung. Im Verweigerungsfall passiert gar nichts und die Vision verkehrt sich in ihr Gegenteil. Das Gericht Gottes bringt dann nicht Gerechtigkeit und Recht, sondern den Untergang der Menschheit. Das ist zugegebenermaßen nicht gerade eine erfreuliche Perspektive, aber es ist wenigstens eine; eine, die nicht in mir selber gefangen bleibt und über das Vom-heute-aufs-morgen hinaus kommt. Der dritte Schritt liegt auch in meiner Macht: Ich kann mich auf den ausrichten, der alle Möglichkeiten in der Hand hält.
Ziel - Zusage - Umsetzung. Jeder Advent ist ein neuer Anfang. Wir brauchen eine Vision. Fangen wir an, uns endlich das richtige Ziel zu suchen!