Predigten

 

Volkstrauertag 18.11.2001 - Eberhardskirche

Predigt zu Jer 8,4ff

Liebe Gemeinde!

Bitter und enttäuscht scheint Jeremia zu sein über das Verhalten seines Volkes: »Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Warum halten sie so fest am falschen Gottesdienst, daß sie nicht umkehren wollen?«

Voll Bitternis und Enttäuschung sind diese Worte, aber auch voll Liebe und Leidenschaft. Wieder und wieder weißt Jeremia auf die Möglichkeit der Umkehr hin. Es ist noch nicht zu spät! Ihr könnt noch zurück! Ein verzweifeltes, einladendes Werben bevor es zu spät ist.

Nehmen wir diese Einladung an! Sehen wir auf die Worte, die uns für heute aufgegeben sind. Spüren wir nach, was sie uns heute sagen können! »Warum halten sie so fest am falschen Gottesdienst, daß sie nicht umkehren wollen?«

Umkehr - Sechs Mal kommt das hebräische Wort für Umkehr in den wenigen Versen vor. Der Autor spielt mit dem Wort, beleuchtet es von allen Seiten, läßt es schillern. Luther hat in seiner Übersetzung ins Deutsche immer wieder neue Worte dafür gefunden: Abkehren, Irregehen, abtrünnig sein.....In der Übersetzung von Buber und Rosenzweig werden die hebräischen Sprachspiele des Urtextes deutlicher: Da heißt es: »Fällt man denn und steht nicht mehr auf, kehrt sich einer ab und kehrt sich nicht mehr um? Weshalb bleibt sie abgekehrt, dieses Volk, Jerusalem? In dauernder Abkehr, halten sie an der Trügerei fest, weigern umzukehren!«
Umkehr - ist bezogen auf Gott: Umkehr des Volkes Israel zu seinem Gott.
Abkehr vom falschen Weg und Rückkehr in ein Verhältnis voll Liebe und Vertrauen. Gott liebt sein Volk. Er hat es aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Er hat es durch die Gefahren der Wüste geführt in ein Land, in dem Milch und Honig fließt. Er hat ihm Ordnungen gegeben, die ihm den rechten Weg weisen. Doch das Volk murrt, wird abtrünnig von seinem Gott, hängt anderen Göttern oder ungerechten Königen an, die ihm nur Unheil bringen. Gott wirbt um die Liebe seines Volkes mit Leidenschaft und Zorn. Jeremia macht sich zu seinem Sprachrohr.

Was ist geschehen? Die genaue Situation, in die diese Worte hinein gesprochen wurden, kennen wir nicht. Wir wissen nur so viel: Die Belagerung Jerusalems durch die Babylonier steht unmittelbar bevor. Jeremia versucht König und Volk klar zu machen, daß sie mit den Babyloniern zusammenarbeiten müssen, um die Katastrophe abzuwenden. Doch niemand hört auf ihn: Statt dessen versucht König Jehojokim mit Ägypten gegen Babylon zu koalieren.
Später bewahrheitet sich das Unheil, das Jeremia angekündigt hat: Noch unter Jehojakim wird Jerusalem eingenommen, der König und die Oberschicht des Volkes nach Babylon deportiert, der Tempel zerstört, das Volk zerissen. Jeremia sieht dies Unheil voraus und er verzweifelt schier daran, daß der König, das Volk ihm nicht glauben. Er sieht die letzte Chance der Umkehr von diesem Irrweg, der Rückkehr zu einem gelungenen Gottesverhältnisses, und kann es nicht fassen, daß das Volk diese letzte Möglichkeit nicht ergreift: »Fällt man denn und steht nicht mehr auf, kehrt sich einer ab und kehrt sich nicht mehr um? Weshalb bleibt sie abgekehrt, Jersusalem, dieses Volk, in dauernder Abkehr?«

Warum rennen sie blind in ihr Unheil? Warum? Wo doch selbst die Vögel die Möglichkeit der Rückkehr verinnerlicht haben und die Zeit kennen, in der sie wiederkommen sollen: Storch und Schwalbe, Turteltaube und Kranich.
Wunderschön hat Jeremia die Namen dieser Vögel ausgewählt: Der weiße Storch am Himmel heißt im Hebräischen chasida, die Fromme. Sie ist im Hebräischen weiblich. »Und warum heißt sie chasida?« fragt der Talmudweise R. Jehuda. » Weil sie chasidut, Frömmigkeit, Liebe, an ihre Gefährtinnen ausübt«, sie teilt ihre Nahrung mit ihnen. (urein, weil sie nicht mit allen teilt). Die Schwalbe heißt sis. Auch sie kennt ihre Zeiten und kommt zurück. Sie bildet sprachlich das Gegenbild zum sus, dem wilden Schlachtroß, dem Hengst, der im Schlachtengetümmel dahin stürmt, und keinen Blick zurück riskiert. Wie eine Tierfabel erscheint dieser Abschnitt bei Jeremia. Ein Ohrwurm wider das Vergessen: Sus oder sis? Zugpferd oder Zugvogel? Todessucht oder Lebenslust? Geballte Kraft oder geflügelte Weisheit? Vom Teufel geritten oder frei wie ein Vogel? Sus oder sis?

Warum entscheidet sich das Volk Israel nicht für die Freiheit, dorthin zurückzukehren, wo das Leben seinen Ursprung hat: zu Gott, dem Schöpfer, zu dem Gott, der sein Volk liebt, und zu seinem mischpat, zu seinem Recht, seinen Weisungen?
Fällt man, steht man wieder auf. Verirrt man sich, kehrt man wieder um. Wer aber gar nicht wahrnimmt, daß er gefallen ist, wer die Sackgasse gar nicht als Sackgasse erkennt, der findet keinen Weg heraus. Wer nicht einmal kurz innehält und fragt »Was habe ich doch getan?« kann den Weg zurück nicht finden.

Liebe Gemeinde!
Als ich vor ca. einer Woche das erste mal den Predigttext für den heutigen Sonntag las, war ich sehr berührt. Ich hatte das Gefühl: diese alten Worte sprechen genau in unsere Zeit, genau in die augenblickliche Krise unserer Welt: Diese prophetischen Worte mahnen uns Menschen des 21. Jahrhunderts wie sie das Volk Israel vor fast 3000 Jahren gemahnt haben.
Im Gegensatz zu Jeremia kann ich zwar nicht sagen, das und das müßt Ihr jetzt tun. Das ist jetzt die richtge Politik. Die Lage ist zu komplex, zu global - und sie ändert sich fast täglich. Das haben die Diskussionen der letzten Tagen gezeigt.
Doch umso notwendiger wären doch jetzt Momente des Innehaltens im Lauf zu Waffen und Gewalt, Momente des Nachdenkens, des Gesprächs, ohne Druck, ohne Bedingungen...
Bedingungsloses Nachdenken statt bedingungsloser Solidarität sozusagen.

Was sind unsere Ziele? Was wollen wir erreichen? Mit welchen Mitteln? Was haben wir bisher getan? Wie können wir aus unseren Fehlern vergangener Kriege lernen? Welche Rolle hat Deutschland in der Vergangenheit gespielt, welche kann es heute spielen?

»Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: »Was hab ich doch getan!« Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahin stürmt.«
Tun sie es bewußt oder unbewußt? Wollen sie vielleicht gar keine Zeit lassen zum Nachdenken? Verfolgen sie vielleicht außer den genannten noch ganz andere Ziele?

Das Wort des Propheten Jeremia lädt uns dazu ein umzukehren. Jeremia redet zu seinem Volk. Er denkt politisch. Wir können seine Mahnung zur Umkehr aber auch persönlich verstehen. Denn nur was Menshcen in sich selber vollziehen, können sie auch nach außen tragen. Nehmen wir uns ein Beispiel an unseren Schwesterreligionen: Gestern hat im islamischen Kalender der Monat Ramadan begonnen, der Fastenmonat. Ein Monat der Einkehr, der Selbstbesinnung, des Bilanzziehens. Um sich ganz auf sich selbst zu konzentrieren, wird tagsüber weder gegessen noch getrunken. Erst abends, wenn es dunkel ist. Das Essen am Abend ist jeden Tag ein kleines Fest, das mit Freunden und Verwandten begangen wird.
Fastenzeit ist auch Versöhnungszeit. In dieser Zeit sollte man Zwistigkeiten mit anderen Menschen aus der Welt schaffen und keinen neuen Streit beginnen. Deswegen sollen während des Monats Ramadan die Waffen schweigen. Die westliche Welt respektiert dies nicht. Die Bombardements werden fortgesetzt.

Jom Kippur heißt der große Fasten- Versöhnungstag im Judentum. Ihm gehen 10 Tage der Einkehr, des Stillehaltens voraus. Zwischen dem Neujahrsfest Rosch-ha-Schana und Jom Kippur. 10 Bußtage, 10 Tage, an denen man sich einer eigenen Sündhaftigkeit bewußt wird, in denen sich jeder selber fragt: »Ist das dein ganzes Tun? Was hast du mit der Arbeit angestellt, die ich dir aufgetragen habe? Hast du als Mensch deine Pflicht getan? Als Jude oder Jüdin gelebt? Untersuch deine Taten! Prüf deine Wort und Gedanken! Und urteile! Denk nicht daran, daß du selber zufrieden bist oder ein anderer dich lobt oder tadelt. Sondern nimm Gottes Maßstab, das Richtmaß seines Willens, und frag dich, ob er zufrieden sein kann.« (de Vries S. 75) So faßt es der niederländische Rabbiner de Vries zusammen, der 1944 im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde. Er überliefert auch folgende kleine Geschichte:
»Ein Weiser sagte einmal: »Bekehr dich einen Tag vor deinem Tod!« Ist das genug? Ist das nicht zu spät? fragte einer. Worauf die Antwort kam: Weißt du denn überhaupt welcher Tag dein Todestag sein wird? Es könnte jeder Tag sein. Also...« (S. 76) (Weiße Kittel)

Nach den 10 Tagen der Einkehr und Buße wird am großen Versöhnungstag im Gottesdienst den Gläubigen die Vergebung aller Schuld zugesprochen. Alle sprechen gemeinsam die Worte aus 4. Mose 15,26 »So wird´s vergeben der ganzen Gemeinde der Kinder Israel, dazu auch dem Fremdling, der unter euch wohnt, weil das ganze Volk an solchem Versehen teilhat.«

Liebe Gemeinde; Juden und Muslime kennen Tage der Umkehr, Tage des Fastens, der Einkehr, der Sündenvergebung und der Versöhnung. Christen haben den einen Buß- und Bettag, des sie noch hatten, abgeschafft. Und die Fastenzeiten, die es in der christlichen Tadition über Jahrhunderte gab, die Adventszeit und die Passionszeit, sie versinken im Angebot von Lebkuchen, Nikoläusen und Schokoladenhasen.

Liebe Gemeinde, sagt das nicht genug über den Gegenatz zwischen der zivilisierten Welt, die es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt, und der orientalischen Welt, die nur zu schnell mit fundamentalistischen Terroristen oder dem Schreckensregime der Taliban in einen Topf geworfen wird?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich sage nicht bei den anderen ist alles gut und richtig, und bei uns sind alle schlecht und korrumpiert. Wir sehen ja sehr deutlich, wie zur Zeit der Islam für politische Zwecke mißbraucht wird. Aber auch das gehört zur Umkehr: Zuerst nach dem Balken im eigenen Auge suchen, bevor ich mit dem Finger auf den Splitter im Auge des anderen zeige.
Der Ruf zur Umkehr erklingt in allen drei Religionen. Seien wir nicht so dumm und überhören diese einmalige Chance zum Neuanfang. Wir wären dümmer als Schwalbe und Kranich, einfältiger als Turteltaube und Storch. Sie wissen, wann sie zurückkehren müssen. Ihnen muß es nicht gesagt werden. Sie kennen die Zeiten.

Liebe Gemeinde! Nehmen wir die Einladung Jeremias zur Umkehr an: Innehalten, zurückblicken, Bilanz ziehen: Was habe ich getan? Sich selber sozusagen in die Karten gucken, Fehler, Versagen und Schuld benennen und vor Gott bringen. Das ist der erste Schritt der Umkehr.
Der zweite Schritt ist die Versöhnung. Auf Menschen zugehen, mit denen man Streit hatte, den Streit begraben und neu anfangen. Umkehr ist nicht mit Angst besetzt. Der Ramadan im Islam und der Jom Kippur im Judentum sind hohe, festliche Festzeiten, die mit Freude gefeiert werden. Und auch die christliche Tradition kennt das: So wie bei uns das Abendmahl. Sich aus sich selbst besinnen, Schuld bekennen und vor Gott bringen, auf den und die andere zugehen und in der Gemeinschaft essen und trinken - all das gehört zusammen, auch im christlichen Abendmahl.

Umkehr ist Rückkehr in die geöffneten Arme des Vaters, der seinen Sohn begrüßt mit den Worten: »Laßt uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden.« (Lk 15, 23f)
Umhehr ist möglich jeden Tag neu. Auch für Eure Kinder, die heute gesegnet wurden. Sie dürfen wissen: Wen sie einmal nicht mehr zu Euch kommen können oder wollen mit ihren Sorgen, oder mit ihrer Schuld: Es ist jemand da, der/ die auf sie wartet mit geöffneten Armen...
Dort kommt meine Seele zur Ruhe, von dort kommt meine Hoffnung. Gott ist mein schützender Fels, meine Zuflucht.
Amen


 

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