Predigten

 
 

Den Nächsten lieben, weil ich Gott liebe
Predigt über Mt 22,34-40 am 30. Sonntag im Jahreskreis A - 22./23.10.2005 in Tübingen und Bühl (Thomas Steiger)

Wir wissen nicht, ob der Gesetzeslehrer mit der Antwort von Jesus einverstanden war; seine unmittelbare Reaktion ist uns nicht überliefert. War er beschämt ob solch einer klugen und umfassenden Antwort: Gott und jeden Menschen zu lieben? Fand er sie - im Gegenteil - billig, wo doch das Gesetz viel komplexer aussieht: mit Liebe kommt man in Fragen des Rechts nicht sehr weit? Hat er sich geärgert, daß Jesus ihm ausgewichen ist, ihm nicht auf den Leim ging? Gab er sich halt zufrieden, weil er keinen weiteren Angriffspunkt mehr sah?

Die Frage des Gesetzeslehrers ist ja die abschließende in einem ganzen Feuerwerk von kritischen Angriffen, denen Jesus sich ausgesetzt sieht. Es ging um das Verhältnis der Mächte zwischen Himmel und Erde, um die Frage eines Lebens nach dem Tod. Und nun zuletzt die nach dem Fazit von allem. Wenn einer ein Christ sein will, was muß er dann beachten, in jedem Fall, ohne Ausnahme?
Liebe Schwestern und Brüder, das Doppelgebot ist uns vermutlich von Kindheit an vertraut. Ach ja, genau, ganz klar, denken wir, wenn die Rede darauf kommt: Gottesliebe und Nächstenliebe. Fraglich ist nur, ob uns tatsächlich so klar ist, was ganz klar zu sein scheint. Das beginnt bereits damit, daß viele Christen nicht ohne weiteres darauf kämen von allein, schon gar nicht auf die Reihenfolge, die sehr bewußt mit der Liebe zu Gott beginnt. Meine Erfahrung lehrt mich: Die meisten fangen mit der Nächstenliebe an und lassen den Horizont, in dem diese steht außer acht. Ein wenig nach der Art: Als Christ ist es wichtig ein guter Mensch zu sein, aber das kann man natürlich auch, ohne an Gott zu glauben. Das stimmt! Und es stimmt doch im gleichen Moment nicht! Für Jesus ist es selbstverständlich und unverzichtbar, mit der Liebe zu Gott anzufangen und alles andere davon abhängig zu machen. Was dann in der logischen Folge soviel bedeutet wie: Den Nächsten, meinen Mitmenschen, so zu lieben, wie es meiner Religion entspricht, ihn in angemessener Weise zu lieben, das geht nur unter der Voraussetzung der Gottesliebe. Ich werde erst dann den Menschen richtig lieben können, wenn ich Gott zuerst liebe. Was bedeutet bloß dieser Zusammenhang, der sich uns so gar nicht mehr selbstverständlich erschließt? Ich will dazu mit Ihnen zusammen, liebe Brüder, liebe Schwestern, in beide Liebesbereiche etwas näher eindringen - um dann zuletzt die logische Verknüpfung von beiden besser zu begreifen.

Zunächst demnach zur Gottesliebe. Was die deutsche Sprache lapidar in ein Wort fassen kann, beschreibt Jesus viel umfassender: Den Herrn, deinen Gott, lieben - mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit all deinen Gedanken. Eine größere Anforderung könnte ich mir gar nicht vorstellen. Und möglicherweise ist eben jenes Umfassende ein Grund, warum wir das lieber verdrängen und schnell bei den Niederungen unserer Liebesbemühungen angelangen, die zu unserem Alltag gehören. Das erste Gebot des Alten Bundes, das Jesus hier als seine Antwort zitiert und als Grundlage für alles Glauben benennt, ist für ihn die Zusammenfassung von allem, was der Mensch in seinem Bemühen, sich Gott zu nähern, tun kann. Nur liebend werden wir ihm begegnen. Nicht der Verstand, das Gefühl, die Kraft sind es, die uns Gott nahe bringen, sondern alles zusammen - aber stets geleitet vom Maßstab der Liebe. Lieben heißt dann: von sich selber ganz und gar absehen und im gleichen Augenblick alle Anstrengungen zusammen nehmen, zu denen ich fähig bin. Gott so zu lieben bedeutet: keinen Bereich meines Wesens, keinen Aspekt meiner Lebensgeschichte, keinen Teil, der zu mir gehört, davon auszuklammern. Die Liebe zu Gott steht als Rahmen über der Liebe zu meinem Partner, über meinem ausufernden Engagement im Beruf, über der Treue zur Kirche. Mit dieser Liebe beginnt alles und hört alles auf. Wenn es Gott bei mir wirklich gibt, wenn er Gott sein darf in mir und meiner Welt, dann schulde ich ihm nicht nur diese Liebe, sondern dann wird solche Liebe automatisch die Konsequenz davon sein. Was im Umkehrschluß aber auch bedeutet, daß ich Gott gar nicht als Gott anerkenne, wenn ich ihn nicht so absolut liebe. Diese harte Kritik richtet Jesus sehr versteckt zwischen den Zeilen seiner Antwort an den Gesetzeslehrer. Und jeder von uns, der manches Mal nach der Bedeutung des Glaubens fragt, kommt daran nicht vorbei.

Dann zur Nächstenliebe. Sie ist genauso wichtig, kommt aber erst danach: deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Jesus läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß der Glaube an seinen Gott keine spekulative, quasi bloß gedankliche Angelegenheit sein kann. Die Liebe muß Tat werden, konkret, sichtbar, erfahrbar. Überall und jederzeit und vor allem in jeder erdenklichen Begegnung muß sich bewahrheiten, daß der Christ einen Gott hat und ihn im Nächsten wieder erkennt. Wer alles mein Nächster sein kann, davon wissen wir, denke ich unser Lied zu singen. Es sind eben nicht nur die Kameraden und Freunde, die Verwandten und Gleichgesinnten. In jedem zeigt sich, ob mein Glaube wahr ist; in jedem zeigt sich mir Gott. Und klug, wie Jesus ist, fügt er ja noch die Relativierung an wie dich selbst. Ja, es kann vorkommen, daß einer sich selbst nicht genug liebt, lieben kann, verzweifelt am Leben. Aber die Regel wird eher das Gegenteil sein: Wir sorgen für unsere Liebe. Und wenn dem so ist, dann als Christen bitte eben in jenem Maße auch für unsere Mitmenschen.

Kann man auch ohne an Gott zu glauben, ein guter Mensch sein? Ja, man kann. Aber ob ich, ohne meinen Gott zu lieben, meinen Nächsten wirklich lieben kann? Die Logik des biblischen, christlichen Glaubens will erklären, daß der Mensch erst in seiner Zuordnung zu Gott ganz Mensch wird. Und dies bedeutet, daß sich eben auch erst dann seine Fähigkeit zu lieben in umfassender Weise entfalten können wird. Andernfalls schlummert unentwegt die Gefahr in mir, mich selbst zum Gott zu machen, in der Liebe primär auf mich selber bezogen zu bleiben. Jene Grundausrichtung des Menschen auf Gott, die wir Glauben nennen, ordnet uns in ein größeres Ganzes ein, und verhindert so, daß wir allzu sehr, ja ausschließlich an unseren eigenen Grenzen hängen bleiben. Wenn ich nämlich den anderen nur um meiner selbst willen und in Hinordnung auf meine Möglichkeiten liebe, dann übersehe ich einen Teil der Realität des Kosmos: daß alles Leben Geschenk und eben nicht mein Verdienst ist. Theoretisch jedoch nützt diese Erkenntnis nichts. Sie will Eingang finden in mein Lebensgefühl, in meine Denkart; sie will Teil meiner Person werden. Und so - ganz und gar auf Gott ausgerichtet - werde ich frei werden zu ungeahnter Liebe. Dafür steht Jesus selbst: seine Unerschrockenheit, die Liebe der stadtbekannten Sündern zu schenken; sein Mut, den eigenen Verräter zu küssen; seine Großzügigkeit, über äußere Menschengesetze hinweg zu sehen, um der größeren Liebe willen, die Gott in ihm erschlossen hat. Und ich kann auch dafür stehen.
Amen.