Ökumenischer Stammtisch
 

Stammtisch am Mittwoch, den 12. März 2008:

 
 

Askese

 
 

Askese und Genuss

Pater Pierre ist Braumönch und Organist im Kloster Saint Remy. Er hat sein Glück hinter den Mauern gefunden

Alois Berger

BRÜSSEL. Manchmal packen Pater Pierre die Zweifel. "Ich frage mich dann, was ich hier im Kloster eigentlich mache", erzählt er, "dann überlege ich ernsthaft, ob ich nicht doch besser zurückgehen soll in die Gesellschaft." Solche Fragen ließen sich nicht einfach wegschieben, sagt er. Es sei dieses Gefühl, einsam durch einen langen Tunnel zu gehen. "Aber irgendwann ist jeder Tunnel zu Ende, und dann bin ich froh, dass ich hier geblieben bin."
Seit fast 40 Jahren lebt Pater Pierre im Kloster Saint Remy in Rochefort in den belgischen Ardennen. Mit 19 trat er in den Trappisten-Orden ein, einen Reformzweig der Zisterzienser. Aber die Entscheidung sei viel früher gereift, erinnert er sich. Mit 15 oder 16 habe er sich entschlossen, sein Leben Gott zu weihen. Die Familie habe ihn bestärkt, und als er dann von Brüssel, wo er aufgewachsen ist, nach Rochefort umzog, da haben ihn seine Eltern begleitet. 45 Mönche lebten damals in Saint Remy, heute sind es noch 15. Von Zeit zu Zeit holt sich Pater Pierre beim Abt die Erlaubnis, die 100 Kilometer nach Brüssel zu fahren und seine Mutter im Altersheim zu besuchen.
Schweigegebot gelockert
Aber er kommt gern zurück. Pater Pierre mag sein meditatives Leben in St. Remy, die Spaziergänge in den Blumengärten, zwischen den Birnbaumspalieren an den Backsteinmauern und die Choräle in der hellen romanischen Klosterkirche. Gut ein Viertel ihres Tages verbringen die Mönche von Rochefort in dieser Kirche. Wenn sie morgens um drei ihre weißen Kutten überwerfen und zur Vigil, dem ersten Gesang des Tages, in die Kirche kommen, dann ist es draußen noch dunkel. Wenn sie abends am selben Ort die Komplet, den Tagesabschluss, singen, dann ist die Sonne wieder untergegangen. Dazwischen studieren sie Bibeltexte, gehen immer wieder in die Kirche, erfüllen Aufgaben, die ihnen der Abt zugeteilt hat, und versuchen bei all dem, so wenig wie möglich zu sprechen.
Bis vor einiger Zeit verständigten sich die Mönche in St. Remy ausschließlich in Zeichensprache, doch der Abt hat das Schweigegebot gelockert, weil man, wie er sagt, auch mit Zeichen Unsinn reden kann. Deshalb dürfen die Mönche heute sprechen, dabei sollen sie sich aber zurückhalten.
Pater Pierre ist der Organist des Klosters und zwischen den sieben täglichen Gebetszeiten ist er der Braumönch. Dabei sieht er ganz und gar nicht so aus, wie man sich einen Braumönch vorstellt: Hager ist er, nicht einmal der Ansatz eines Bauches drückt sich durch die Kutte. Pater Pierre hat dafür eine einfache Erklärung: "In St. Remy brauen wir zwar Bier, aber wir trinken es nicht."
Nur am Freitagvormittag, kurz nach elf Uhr, geht Pater Pierre auf ein paar Schlückchen ins Labor. Ein Assistent hat dann schon drei bauchige Gläser mit den dunklen, schweren Rochefort-Bieren gefüllt und die Flaschen versteckt. Braumeister Vital Streignard, Brauingenieur Guymer Santos und der Pater sollen unbeeinflusst testen. "Ich bin für die Qualität verantwortlich", erklärt Pater Pierre selbstbewusst, "wir geben das Bier nur zum Verkauf frei, wenn es einwandfrei ist." Wenn er dann am Glas nippt, sieht man ihm an, dass er das Bier genießt und dass es ihm nicht immer leicht fällt, sich an die Askesevorschriften des Heiligen Benedikt zu halten. Er lobt den Braumeister und ist auch ein bisschen stolz, vor allem, weil der Brauingenieur berichtet, dass das besonders starke Rochefort No.10 in einer amerikanischen Internet-Umfrage schon wieder zum drittbesten Bier der Welt gewählt wurde.
Draußen, auf dem Weg zum Mittagsgebet, müht sich Pater Pierre, die Dinge zurechtzurücken. Man müsse aufpassen, dass man die Arbeit und alles drum herum nicht zu wichtig nehme. Die Brauerei sei für das Kloster da, nicht umgekehrt. Er erinnert daran, dass die belgischen Trappisten-Klöster früher vor allem von der Landwirtschaft lebten. In den 50er-Jahren begriffen die Mönche schneller als andere, dass Ackerbau und Viehzucht wenig Zukunft hatten, vor allem aber, dass keine Zeit fürs Beten bleibt, wenn man den Unterhalt für Mönche und Kloster allein mit Landbau bestreiten will. Nach einigen Versuchen stellte sich heraus: Mit traditionellen Klosterbieren ist ein gutes Geschäft zu machen.
Mit dieser Erkenntnis gehen die sechs belgischen Trappistenklöster sehr unterschiedlich um. Die Mönche in Chimay zum Beispiel brauen so viel, wie sie verkaufen können, um möglichst viele gute Werke zu finanzieren. In Westvleteren dagegen brauen die Mönche nur, wenn das Kloster Geld braucht. Alle paar Wochen staut sich dort um sechs Uhr morgens der Verkehr vor dem Tor, weil jeder Kunde nur einen Kasten mitnehmen darf.
Rochefort liegt irgendwo dazwischen. "Wir sind kein Bettelorden", stellt Pater Pierre klar, "aber wir passen auf, dass uns die Arbeit nicht auffrisst." Deshalb haben die Mönche beschlossen, nur 400 Hektoliter pro Woche zu brauen, obwohl sie fünfmal so viel verkaufen könnten: "Das schafft Freiheit, wir müssen vor unseren Kunden nicht auf die Knie gehen." Die geschäftliche Unabhängigkeit, da ist sich der Mönch sicher, schlägt sich auch in der Qualität nieder. "Hinter unserem Erfolg stecken nicht irgendwelche Küchengeheimnisse, sondern unsere christliche Ethik", meint Pater Pierre und zeigt hinüber zum Brauhaus, das mitten im von Efeu umwachsenen Klosterhof steht. Durch die hohen Fenster leuchten zwei kupferne Braukessel. "Wir können in die beste Technik investieren, weil wir keine Aktionäre haben, die selbst nichts tun." Da klingt der junge Pierre durch, der die Diskussionen an seiner Oberschule 1968 in Brüssel miterlebte: "Wir haben keine Aktionäre, die uns auspressen. Wir kommen auch ein paar Jahre mit weniger Gewinn aus."
Der Mönch verschwindet zum gregorianischen Choral in der Kirche. Nebenan bereitet der Koch in der Klosterküche das Mittagessen vor. Spinat mit Ei, danach Salat. Am Tag davor gab es Nudeln mit Tomaten, davor Fisch und davor Eier mit Spinat. "Im Kloster zu kochen, ist nicht schwierig, aber etwas eintönig", sagt der Koch, denn die Trappisten von St. Remy dürfen kein Fleisch essen. "Manchen merkt man an, dass ihnen das nicht leicht fällt," sagt der Koch verlegen: "Mönche sind auch nur Menschen."
Der Koch ist kein Mönch, ebenso wenig wie der Braumeister, der Ingenieur, der Schneider und der Klosterschreiner Mönche sind. Denn es gibt Arbeiten, die erledigt werden müssen, während die Mönche beten. Deshalb beschäftigt das Kloster St. Remy 20 Zivilangestellte. "Es ist ein angenehmes Arbeiten hier", erzählt der Koch, "ruhig und in einer herrlichen Umgebung. Aber man muss Mönche mögen."
St. Remy liegt in einem abgelegenen Flusstal, hat seine eigene Quelle und eine fast 800-jährige Geschichte. Doch auch in St. Remy rückt die Welt immer näher. Ein Unternehmer will den nahen Steinbruch erweitern. Das würde den Grundwasserspiegel senken und die Klosterquelle austrocknen. Pater Pierre kämpft um die Quelle, schreibt Protestbriefe, Eingaben, Briefe an die Anwälte. Vor Jahren hat er den Ausbau einer Schweinefarm verhindert, später einen überdimensionierten Geflügelhof. Damals ging das Kloster vor Gericht und bekam Recht.
Für Pater Pierre ist es nicht immer leicht, die Welt zu verstehen. Er kommt nur selten heraus aus dem Kloster, Fernsehen gibt es nicht; die wenigen Gäste kommen zum Meditieren und Schweigen, nicht zum Reden. "Natürlich mache ich mir meine Vorstellungen", erzählt er, "wie es wäre, wenn ich mir eine Wohnung suchen und Geld verdienen müsste." Andere Mönche wie Bruder Gregoire oder Bruder Maximilian waren in Ruanda und Marokko, haben Aidskranke gepflegt und Missionsstationen mit aufgebaut. Pater Jacques-Emmanuel war Mathematikprofessor in Burundi. Das Leben von Pater Pierre verlief gleichmäßig und beschaulich. "Ich habe lange überlegt, ob ich es verantworten kann, im Kloster zu bleiben, wenn draußen Priester fehlen", sagt er. "Aber das gemeinsame Gebet ist auch eine Aufgabe."
15 Mönche in einem Kloster, das für zehn Mal so viele gebaut wurde: Da bleibt viel Platz. An manchen Wochenenden kommt Gael dazu, ein 17-jähriger Franzose. "Wenn die Leute wüssten, wie schön es hier ist", schwärmt er, "dann wären die Klöster voll." Der Abt zögert, ihn aufzunehmen. Der Junge soll erst die Schule beenden. Pater Pierre fühlt sich an sich selbst vor 45 Jahren erinnert, wenn er Gael sieht. Er hält kurz inne, bevor er sagt: "Alles in allem bin ich glücklich in meinem Kloster."

Berliner Zeitung, 06.08.07


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